G. Zabratzky: Ungarische Flüchtlinge in der Schweiz

Cover
Titel
Flucht in die Schweiz. Ungarische Flüchtlinge in der Schweiz


Herausgeber
Zabratzky, Georg
Erschienen
Zürich 2006: Orell Füssli Verlag
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
David Tréfás, Universität Basel

Zu den Mythen des Kalten Krieges gehört hierzulande der Ungarn-Aufstand von 1956. Die Aufmerksamkeit, die diesem Ereignis damals zuteil wurde, und die Betroffenheit der Bevölkerung waren ausserordentlich gross. Eine Buchpublikation befasst sich mit der Flucht der ungarischen Flüchtlinge in die Schweiz und ihrer Integration in die schweizerische Gesellschaft. Der Aufbau des Buches ist dreigeteilt: Im ersten Teil erinnern sich hauptsächlich ehemalige Aktivistinnen und Aktivisten der Schweizer Studentenschaft an den Ungarn-Aufstand und die Flüchtlingsbetreuung in der Schweiz. Diesen werden im zweiten Teil Erinnerungen ehemaliger ungarischer Flüchtlinge an ihre Flucht in die Schweiz gegenübergestellt. Der dritte Teil widmet sich der Präsentierung von Ergebnissen einer Umfrage unter ungarischen Flüchtlingen und Schweizer Zeitzeugen zu den Umständen der Flucht und der Integration. Die Gegenüberstellung von schweizerischen und ungarischen Protagonisten und Zeitzeugen sowohl in den Erlebnisberichten der ersten beiden Teile als auch im Umfrageteil verspricht eine spannende Lektüre der gemeinsamen Erfahrungen beider Gruppen. Mit dieser Anlage könnten wichtige Forschungslücken bezüglich der ungarischen Flüchtlinge, mit bisher kaum vorhandenen empirischen Daten unterfüttert, geschlossen werden. Denn noch immer weiss man wenig über die genauen Beweggründe zur Flucht, und es gibt auch keine fundierte Forschung zur Integration dieser offenbar gern gesehenen Flüchtlinge.

Es ist bedauerlich, dass diese an sich ausgezeichnete Anlage nicht zur Klärung der offenen Forschungsfragen genutzt wurde. Das reiche anekdotische Material hätte für eine Oral-History-Studie, wie sie Tamás Kanyó 2002 verfasst hatte, bei weitem ausgereicht, ja den Quellenbestand noch übertroffen1. Ein erster Grund für das Scheitern ist die Missachtung der bisher geleisteten Forschung. Abgesehen vom Beitrag des ehemaligen NZZ-Korrespondenten András Oplatka wird an keiner Stelle auf historische Studien zu 1956 oder die Flüchtlinge in der Schweiz hingewiesen, obwohl die Sprachkompetenz des Herausgebers das Studium auch der reichhaltigen ungarischen Forschung ermöglicht hätte. Willentlich oder unwillentlich zwingt dieses Versäumnis den Leser, in diesem Buch weniger eine historische denn eine politische Absicht zu sehen. Dies ist zugleich der zweite Grund des Scheiterns. Die Absenz der Beschäftigung mit der historischen Forschung erhärtet den eingangs erwähnten «Mythos 1956», wie er im durchaus politisch gemeinten Vorwort von Bundesrat Christoph Blocher erscheint. In dieser Lesart stellte der Bundesrat für die Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge keine Bedingungen, «wie dies die Schweiz im Zeichen kollektiver Not stets getan hat». Mit der raschen und unbürokratischen kollektiven Anerkennung der Ungarn als politische Flüchtlinge habe die Schweiz bewiesen, «dass sie sehr wohl auf spezielle Krisensituationen grosszügig reagieren kann. Die Behörden durften dabei auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen. Denn es gab keinen Anlass, an der Aufrichtigkeit und Not der Flüchtlinge zu zweifeln.» Dabei nimmt der Vorwortautor explizit Bezug auf den apologetischen, nur 1956 gewidmeten Anhang zum Bericht von Carl Ludwig, der die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit einem moralisch ansehnlicheren Licht kontrastieren sollte. Auf der Grundlage dieses Vorwortes erscheinen auch die Auswertungen der Umfrage im dritten Teil als stark ideologieverdächtig, zumal über die Methode der Umfrage keinerlei Hinweise vorliegen. Dies ist der dritte Grund des Scheiterns. Die Repräsentativität der Umfrage muss bezweifelt werden, wenn 62,9% der befragten Ungarn Akademiker sind und im Raum Zürich leben. Dies entspricht, wenn man den Angaben im Anhang trauen darf, lediglich 5,7% aller Flüchtlinge. Dazu ist die Gruppe der Männer überrepräsentiert. Noch undurchsichtiger ist die Auswahl der 102 Schweizer Zeitzeugen. Diese Unzulänglichkeiten schmälern die ohnehin schon schwachen Deutungen der Umfrageergebnisse deutlich.

Alles in allem genügt das Buch lediglich dem Anspruch des Herausgebers, «ein Zeichen der Dankbarkeit gegenüber dem Schweizer Volk, das diese Menschen moralisch und materiell grosszügig unterstützt hat» zu geben. Da das Buch aber wissenschaftlichen Ansprüchen bedauerlicherweise in keiner Weise genügt, bleibt der Befund, bei der Lektüre einer verpassten Chance beizuwohnen.

Zitierweise:
David Tréfás: Rezension zu: George Zabratzky (Hg.): Flucht in die Schweiz. Ungarische Flüchtlinge in der Schweiz. Zürich, Orell Füssli, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 2, 2007, S. 216-217.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 2, 2007, S. 216-217.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit